Exkurs: Deontik in Spezifikationen#
Mein Kontext ist govdata.de, ein Verzeichnis offenener Matadaten. Die Datensätze in govdata müssen einem Schema gehorchen, nämlich DCAT-AP (im Folgenden kurz für https://www.dcat-ap.de/def/dcatde/2.0/spec/, einer Spezialisierung von DCAT2, dem Vorgänger von aktuell https://www.w3.org/TR/vocab-dcat-3/).
Wie viele andere Recommendations auch verwendet DCAT-AP Begriffe aus https://www.rfc-editor.org/rfc/rfc2119.txt, insbesondere DE-Äquivalente von MUST, MUST NOT, SHOULD, SHOULD NOT, MAY, siehe https://www.dcat-ap.de/def/dcatde/2.0/spec/#terminologie-und-definitionen:
Die Begriffe MUSS, SOLL und KANN werden in diesem Dokument entsprechend ihren in RFC2119 definierten Bedeutungen verwendet, wenn sie wie hier gezeigt durchgehend groß geschrieben wurden.
Verpflichtende Klasse: Sender MÜSSEN Informationen über Instanzen dieser Klasse zur Verfügung stellen. Empfänger MÜSSEN Informationen über Instanzen dieser Klasse verarbeiten können.
Empfohlene Klasse: Sender SOLLEN Informationen über Instanzen dieser Klasse zur Verfügung stellen. Sender MÜSSEN Informationen über Instanzen dieser Klasse zur Verfügung stellen, falls solche Informationen verfügbar sind. Empfänger MÜSSEN Informationen über Instanzen dieser Klasse verarbeiten können.
Nun ist DCAT-AP in Form eines RDF(S) Vokabular definiert. Bekanntermaßen kann man in RDF(S) keine Integrity Constraints abbilden. Diese Lücke füllt u.A. die normalsprachliche Beschreibung. Beispiel 4.3 Klasse: Datensatz:
Wir stellen fest:
“Pflicht” wird mit einer Kardinalität
[1..*]
gleichgesetzt“Empfohlen” und “Optional” wird beides (!) mit einer Kardinalität
[*]
gleichgesetzt
In OWL lässt sich die Kardinalität abbilden, aber das Kardinalität-Inferencing ist kompliziert und teuer. Auch spielt meines Wissens nach OWL für DCAT-AP keine Rolle.
Für DCAT-AP liegt ein Validator vor, siehe z.B. https://www.itb.ec.europa.eu/shacl/dcat-ap/upload. Der Validator überprüft die Norm-Konformität eines RDF-Datensatzes mit Hilfe der Shapes Constraint Language (SHACL). Persönlicher Kontakt mit den Maintainern von govdata.de zeigt, dass die SHACL-Regeln teils automatisch, teil händisch erzeugt und fortgeschrieben werden. Letztlich definiert ein solcher Validator die “Semantik” der rfc2119-Begriffe prozedural durch eine Referenz-Implementierung.
Meine Fragen:
Welche weiteren Möglichkeiten gibt es, die RFC2119-Begriffe zu interpretieren?
Lässt sich sogar eine Abbildung auf eine Modallogik denken?
Welche Modallogik: epistemisch? deontisch?
Wie lassen sich solche modalen Interpretationen von RFC2119-Begriffen wieder in einer Ontologie abbilden?
Wo können wir die Fähigkeiten von OWL- oder anderen Reasonern nutzen; wo wollen wir mit SPARQL arbeiten; wo mit SHACL?
Wie passt das alles zusammen?
RFC 2119#
Hint
https://www.rfc-editor.org/rfc/rfc2119
MUST This word, or the terms “REQUIRED” or “SHALL”, mean that the definition is an absolute requirement of the specification.
MUST NOT This phrase, or the phrase “SHALL NOT”, mean that the definition is an absolute prohibition of the specification.
SHOULD This word, or the adjective “RECOMMENDED”, mean that there may exist valid reasons in particular circumstances to ignore a particular item, but the full implications must be understood and carefully weighed before choosing a different course.
SHOULD NOT This phrase, or the phrase “NOT RECOMMENDED” mean that there may exist valid reasons in particular circumstances when the particular behavior is acceptable or even useful, but the full implications should be understood and the case carefully weighed before implementing any behavior described with this label.
MAY This word, or the adjective “OPTIONAL”, mean that an item is truly optional. […]
einfacher Sprachgebrauch#
Intuitiv könnte man drei “Modi” in einer Reihe anordnen: verboten - erlaubt - geboten.
Jeder dieser 3 Modi kann man syntaktisch mit einer Negation versehen werden: nicht {geboten|erlaubt|verboten}; und auch jeweils die Handlung. Damit sind Sätze möglich wie:
g(h): Es ist geboten zu helfen
¬g(h): Es ist nicht geboten zu helfen
g(¬h): Es ist geboten nicht zu helfen
¬g(¬h): Es ist nicht geboten nicht zu helfen
deontisches Sechseck#
Nach [Joe10] (S.210), leicht modifiziert in https://scilogs.spektrum.de/die-natur-der-naturwissenschaft/erweiterungen-der-aussagenlogik/:
Ausführlichst und sehr kompetent (Empfehlung!): [Joe10]
Modallogik#
Schöne fachliche Einführung für Menschen mit formalwissenschaftichem Hintergrund: [Gar14] https://plato.stanford.edu/archives/win2014/entries/logic-modal/
Ergebnis:
in der Welt von sollen, werden, wissen haben wir die Wahl zwischen verschiedenen Glasperlenspielen
fast überall verbergen sich unintuitive Stolperfallen
Selbstexploration#
Auf der Suche nach der “sozialen” Semantik einiger deontischer Begriffe, Selbstexploration JB.
geboten: Es besteht eine Pflicht, die Handlung auszuführen.
Das Gebot ist nötig, weil die Menschen das Verhalten nicht sowieso aus eigenem Antrieb zeigen.
verboten: Die Handlung ist verboten; es ist Geboten, die Handlung zu unterlassen: Verbot = Unterlassungs-Gebot
erwünscht:
eine Verpflichtung kann vermutet werden, liegt aber nicht vor
Verhalten wäre insgesamt hilfreich
zielt auf ein Verhalten ab, das etwas Mühe kostet
Fragestellung, ob eine Verpflichtung besteht
etwas schwächer als Verpflichtung
Aktivierung liegt nicht vor; Anregung zur aktiven Handlung; hat Aufforderungscharakter
Beispiele:
bei einer Party: Sollen wir einen Salat mitbringen?
im Hotel: Soll die Rechnung im voraus bezaht werden?
in der Jugendherberge: Ist es erwünscht, die Betten abzuziehen?
erlaubt:
ein Verbot in anderen Kontexten kann vermutet werden, liegt aber nicht vor
zielt auf einen Wunsch ab, der negative Folgen haben kann
Verhalten ist insgesamt nicht hilfreich, im Einzelfall aber tolerierbar
Erlaubnis muss erteilt, muss eingeholt werden
Aktivierung liegt vor; Anregung zur Unterlassung; dient der Impulskontrolle
Beispiele:
Ist hier Rauchen erlaubt?
im Biergarten: Darf man das Essen selbst mitbringen?
Zusammenfassung für das Feld der menschlichen Handlungen:
Manche Dinge will man tun, aber das schadet anderen: Hier ist ein Impuls vorhanden, der qua Norm gedämpft werden soll: verboten, schwächer: erlaubt
Andere Dinge will man nicht tun, aber man sollte sie tun: Hier ist eine Trägheit vorhanden, die qua Norm überwunden werden soll: geboten, schwächer: erwünscht
Semantische Modellierung von rfc2119#
Wir nehmen an, dass wir als Arbeitgeber in einem Bewerbungsverfahren die Klasse “Person” modellieren wollen. Ein Kollege legt in seiner privaten Datenhaltung folgende Attribute an:
Person:
Berufsabschluss
SteuerID
Vorstrafen
sexuelle Orientierung
Der Berufsabschluss ist ganz klar ein rfc2119-MUSS, ohne das geht es nicht in einem Bewerbungsverfahren. Die SteuerID ist ein rfc2119-SHOULD: Wenn es eine solche gibt, muss sie aus Steuergründen mit aufgenommen werden. Ein klares rfc2119-MUST NOT wäre die Frage nach der sexuellen Orientierung, die Persönlichkeitsrechte der Person verbieten das. Ein rfc2119-SHOULD NOT ist die Frage nach Vorstrafen: Im allgemeinen ist sie verboten, aber gibt Ausnahmen:
[…] wenn eine Information wesentlich ist für die ausgeschriebene Tätigkeit, dann ist auch eine standardmäßig verbotene Frage möglicherweise erlaubt. So kann für Positionen mit Budgetverantwortung die Frage nach Verurteilungen wegen Betrug, Unterschlagung oder Veruntreuung und ähnliche Straftaten zulässig sein – aber nicht die pauschale Frage nach Vorstrafen. (https://www.agrobrain.de/news/rund-um-die-bewerbung/verbotene-fragen-und-deren-ausnahmen-im-vorstellungsgespraech)