argument_mining_2020-03-13
Dieser Text: Brainstorming "Argumentationslogik". Anlass: ein Kollegen hat mich in einem Vortrag zur Rekonstruktion von Argumentationen in Texten auf das Tool https://argdown.org/ hingewiesen; sieht super aus, will ich ausprobieren!
Um argdown.org zielgerichtet auszuprobieren zu können vergewissere ich mich zuerst meines Vorwissens: Welche in weitestem Sinn "logischen" Schlussmuster kenne ich? Mit welchen Items, Wissensrepräsentationen würde ich textbasierte Argumentationen modellieren?
Grundelemente
eine große, offene Menge von (Tatsachen-) Behauptungen, sog. Prädikatoren
- vorwiegend beschreibende Tatsachen-Sätze
- Behauptungen der Form "es ist erlaubt/geboten/verboten", "ich weiß/bezweifle, dass" etc. sind in diesem Sinn keine Tatsachen-Sätze, aber in einer Argumentation natürlich enorm wichtig. Deshalb stellen wir für solche Sätze zwar nicht im Basis-Setz, wohl aber in Erweiterungs-Sets spezielle Schlussfiguren zur Verfügung.
- Evidenzen (Korrespondenztheorie der Wahrheit)
- unbezweifelbare, z.B. durch Introspektion gewonnene Intuitionen ("cogito, ergo sum")
- allgemein auch alle abstrakten, hypothetischen, spekulativen, absurde Tatsachenbehauptungen
- insbes. auch moralische Prinzipien: Kant'sche Verallgemeinerung, Utilitaristisches Prinzip, Kohärenz-Forderung, "cogito, ergo sum" u.V.m.
eine kleine, vergleichsweise abgeschlossene Menge von Schlussmustern
- Schlussmuster: hier Fachbegriff für https://de.wikipedia.org/wiki/Argument in engerem Sinn: "Abfolge von Aussagen, die aus einer Konklusion und möglicherweise mehreren Prämissen besteht, wobei die Konklusion diejenige Aussage ist, die durch die Prämissen begründet (man sagt auch: gestützt) werden soll."
- erhältlich als Basis-Set + Erweiterungs-Sets
Argumente: einzelne Schlüsse gemäß den vorhandenen Schlussmustern, jeweils einige wenige Prämissen zu Konklusionen verbindend
optional, aber sehr wünschenswert sind named graphs: ein Teil einer Argumentation (genau genommen ihr Graph) kann "gekapselt" und benannt werden; es entsteht ein neuer Prädikator
- und damit auch wieder Gegenstand einer Argrumentation sein
- d.h. die Gültigkeit, die Struktur, die Komplexität etc. einer Argumentation sind Prädikatoren,
die in einer Argumentation verwendet werden können
- auch selbstbezüglich! ... die gängigen Mengen-Paradoxa etc. sind zu erwarten
- Verwandschaft zu Named Graphs, Prädikatenlogik höherer Ordnung
Argumentation
Argumentation:
- die Prädikatoren werden durch Schlüsse zu einem gerichteten (und in der Praxis oft oder typischerweise zyklischen) Graphen verbunden werden
- der Graph kann auch (und wird oft) zyklisch sein
graphische Darstellung für die Anschauung (und ggf. sogar Theorie-Grundlage?): https://de.wikipedia.org/wiki/Petri-Netz
Schlussmuster Basis-Sets
Set "pro-contra"
- p spricht für / spricht gegen q
Set "sprachliche Konjunktionen"
- "und", "aber", "denn", "obwohl"
- https://de.wikipedia.org/wiki/Konjunktion_(Wortart)
gängige Muster der Aussagenlogik, Boolsche Logik
- typisches Beispiel: p -> q => nicht p -> nicht q (korrekt wäre => nicht q -> nicht p)
- wir lassen auch ungültige Schlussmuster zu
- denn erstens treten sie faktisch auf
- Es kann in unserem Interesse sein, den Gegner erst kurz vor der Urteilsverkündung / im Schlussplädoyer auf Fehler in seinen Schlüssen hinzuweisen ;-)
Schlussmuster Erweiterungs-Sets
Set "pars pro toto"
- x ist ein Beispiel für y
- falls x angegriffen wird kann man ersatzweise ein anderes x_2 suchen
- y ist eine Verallgemeinerung von x
- y weist spezifische Schwächen nicht auf, die in x zwar enthalten sind, die aber für y nicht typisch sind
Set "epistemische Logik"
- Logik des Wissens
- Operatoren: wissen, für möglich halten, für wahrscheinlich halten, evident, intuitiv, unbestreitbar wahr
- Kennzeichnung "Proposition ist gut begründet oder begründbar" ... auch wenn die Begründung im lokalen Graph nicht enthalten ist
- interessant insbes. auch in Verbindung mit Named Graphs, d.h. anwendbar auf Argumentationen
Set "deontische Logik"
- Logik des Sollens
- Operatoren: erlaubt, geboten, verboten, mögllich
Set "Syllogismen"
- Syllogismen: """ Eine Deduktion (syllogismos) ist also ein Argument, in welchem sich, wenn etwas gesetzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt """ https://de.wikipedia.org/wiki/Syllogismus
- Syllogismen sind trickreich und nichts für Anfänger: http://www.philo.uni-saarland.de/people/analytic/strobach/neueseite/pdfs/homburg.pdf
- Syllogismen gehen über die Aussagenlogig (Basis-Set) hinaus: Man benötigt die Prädikatenlogik zu ihrer formalen Rekonstruktion
Set possibilistische, probabilistische, fuzzy, bayes'sche Logik
für Fortgeschrittene: Erweiterungs-Set "Eristik": Auch Schopenhauers https://de.wikipedia.org/wiki/Eristische_Dialektik sollte darstellbar sein
Erweiterungs-Set "Eristik": Auch Schopenhauers https://de.wikipedia.org/wiki/Eristische_Dialektik sollte darstellbar sein
- "Rhetorik" in schlechtem Sinn
- möglicherweise exakt das erforderliche Instrument für die Rekonstruktion von Fernseh-Debatten?
Argumente vs. logische Schlüsse
In einem logischen Schluss p -> q ergibt sich q zwingend aus p. Voraussetzung für einen logischen Schluss ist eine vorausgehende formallogische Formalisierung.
Bei komplexen Themen ist eine solche vorausgehende Formalisierung nicht möglich. Argumente sind Schlüsse gemäß Schlussmustern wie z.B. p -> q; jetzt sind p und q allerdings natürlichsprachliche Sätze, die gerade nicht logisch-zwingend auseinander folgen. Im Gegenteil: Eine philosophisch gehaltvolle Argumentation zeichnet sich dadurch aus, dass p und q inhaltlich so unterschiedlich sind, dass auch das Argument p -> q inhaltlich gehaltvoll ist.