Was ist gute Lehre (2016)

Die Frage "Was ist gute Lehre?" gehört zu den problematischsten Grundsatzfragen jedes Hochschullehrers.

  • (1) Einerseits gibt es zu diesem Thema eine Fülle an dokumentierten Diskussionen und wissenschaftlichen Untersuchungen - in einem Umfang, der selbst professionelle Hochschuldidaktiker bisweilen die Übersicht verlieren lässt.
  • (2) Andererseits kann man als Dozent keinen Unterricht machen, ohne für sich zumindest implizit eine Vorstellung von guter Lehre zu haben - auch ohne die Fülle an Literatur bereits bewältigt zu haben.

Klar ist, dass in der Lehr-Praxis der Top (2) den Top (1) schlägt.

Klar ist aber auch, dass moderne Anforderungen an das Qualitätsmanagement einer Bildungseinrichtung es erfordern, sich über die Vielzahl an individuellen Positionen zumindest auszutauschen. Tatsächlich setzt sich ein Kreis von Kollegen derzeit mit der institutionellen Perspektive auf diese Frage auseinander: "Was bedeutet eine hohe Qualität in der Lehre an unserer Bildungseinrichtung?".

Um zur Diskussion der institutionellen Perspktive beitragen zu können, versuche ich in diesem Text, mir über meine eigene Werthaltungen und Leitlinien klar zu werden (und diese damit der Kritik zugänglich zu machen): Was verstehe ich unter guter Lehre?

Kurz:

  • Gute Lehre ist ... wenn nicht das Lehren, sondern das Lernen im Blickpunkt steht.

Zentraler Ansatz: "Shift from teaching to learning"

In dem Kurzfilm "teaching teaching, understanding understanding" werden in Teil 1 drei verschiedene Perspektiven auf Lehren und Lernen skizziert:

  • ca. Minute 5:38 Perspektive 1: What students *are* = blame the student perspective
  • ca. Minute 6:44 Perspektive 2: What *teachers* do = blame the teacher perspective
  • ca. Minute 7:55:Perspektive 3: What *students do*

Perspektive 3 hat vor allem diejenigen Tätigkeiten im Blick, die die Studierenden unternehmen, um ihre eigenen Lernziele und/oder die Lehziele des Dozenten zu erreichen, sowie das Ergebnis dieser Tätgkeiten. Dieser sog. "Shift from teaching to learning"

  • gehört seit über 10 Jahren zum selbstverständichen Topos jeder informierten Hochschuldidaktischen Disusison
  • geht parallel mit dem Topos "Lernen an sich sichtbar machen" (John Hattie 2009)
  • verlangt eine Veränderung des Rollenverständnisses von Hochullehrern: Weg vom Dozenten, der Wissen vorträgt, hin zum Lernunterstützer, der den Studierenden lernförderliche Lernarrangements bereit stellt.

Was ist für mich gute Lehre?

Gute Lehre an einer Hochschule ...

  • folgt "dem Shift from teaching to learning"
  • entwickelt Kompetenzen statt Wissen
  • ... ist nicht "teacher proof", sondern erkennt, dass die Beziehung zwischen Student und Dozent einen sehr wichtigen Beitrag für die Bildungsziele einer Hochschule liefert.
  • ... kennt die in der DIN ISO 29990 (s.u.) beschriebenen "handwerklichen" Anforderungen an gute Lehr-Lernarrangements, und entscheidet sich bewusst, welche davon in der eigenen Lehre realisert und welche verworfen werden sollen.

Unterricht findet nicht in Form von Lehr-, sondern in Form von Lernveranstaltungen statt:

  • Schwerpunkt von Lernveranstaltungen:
    • selber machen, üben
    • Lernerfolgskontrolle kann idealerweise selbst vorgenommen werden
  • Verwendung von Methoden, die dem Ideal "Lernen sichtbar machen" (Hattie) unterstützen
  • *direct instruction* (Unterrichtung in engerem Sinn) findet hauptsächlich in Bezug auf - idealerweise fachbezogene - Lernstrategien statt;
  • Der eigentlich Stoff muss von den Studierenden ohnehin selbst erlernt werden: Vermeidung des Lehr-Lern-Kurzschluss (Holzkamp)
  • Das passende Evaluationsinstrument dazu evaluiert konsequenterweise nicht das Lehr-, sondern das Lernhandeln (um daraus dann wieder Rückschlüsse für eine Verbesserung der Lernarrangements ziehen zu können): http://www.v-r.de/de/das_berliner_evaluationsinstrument_fuer_selbsteingeschaetzte_studentische_kompetenzen_bevakomp/t-0/1003159/

Der Dozent versucht, seine Lernarrangements systematisch zu verbessern, und für sich so sein eigenes Lernen sichtbar zu machen:

Bezug zur DIN ISO 29990

Für kommerzielle Bildungsanbieter am freien Markt gibt es für die institutionelle Ebene dafür natürlich längst Qualitätsnormen, z.B. die DIN ISO 29990: Lerndienstleistungen für die Aus- und Weiterbildung — Grundlegende Anforderungen an Dienstleister.

Auch wenn diese Norm - wie jede andere QM-Norm auch - für das individuelle pädagogische Handeln selbstverständlich keine konkreten Vorgaben macht, hat sie doch Einfluss auf das Lehr- und Lernhandeln: Immerhin geht sie davon aus, dass die Aufgabe des Bildungsanbieters darin besteht, Lern-Dienstleistungen zu erbringen.

Die Norm stellt den Lerner in den Mittelpunkt und weist dem Lehrenden die moderne Rolle des "Lern-Facilitators" zu. Damit sind aber Aufgaben verbunden, für die eine traditionelle Vorlesung in einem großen Hörsaal nur bedingt zielführend ist.

Nachtrag 2016-11-15

Selbstversuch: Was passiert, wenn man zur selben Frage mehrfach in größerem Abstand eine Innenreflexion durchführt? Interessant: Es kommen unterschiedliche Formulierungen, Perspektiven, Schwerpunkte heraus. Wir lernen daraus: Lediglich Brainstorming - und sei es noch so systematisch - führt ad hoc lediglich zu vorläufigen Ergebnissen, die man nicht unbedingt zu wichtig nehmen sollte. Hier die Ergebnisse eines Brainstormings ca. zwei Wochen später:

eine LV ist gut, wenn

  • Lernen auf vielfältige Weise angeregt und vielfältige Lernmöglichkeiten gegeben werden
  • Lernen sichtbar gemacht wird (Hattie)
  • die Balance zwischen Geschlossenheit und Offenheit stimmt
    • zu ca. 50% "klausurfähige" Lernziele unterrichtet werden
    • aber ebenso 50% Gelegenheit zu selbstdefinierten und/oder überfachlichen Querschnittskompetenzen gegeben wird
  • der Dozent oder (bei SGL-tauglichen Veranstaltungen: weitestgehend) die Medien den Stoff lernunterstützend darstellen
  • sie SGL-tauglich ist (erklärtes Ziel für GdI, wird nicht besonders angestrebt für GdW)
  • sie K-orientiert ist

SGL-tauglich: tauglich für selbstgesteuertes Lernen

  • auch autonome bis hin zu autodidkatische Lerner unterstützt werden
  • didaktische Weichen eingebaut sind, also die TN selbst über ihre Lernmethoden (und ggf. auch Ziele und Inhalte?) entscheiden können
  • insbesondere Weichen so, dass sogar der Dozentenvortrag durch andere Lernquellen ersetzt werden kann? -> SGL-tauglich

K-orientiert

  • "Kompetenz" in einer oder mehreren der wichtigsten X Hauptinterpretationen verstanden wird
    • Lernziel-Taxonomie a la Bloom etc. (ca 1970) oder aktueller Anderson/Krathwohl (ca 2000)
    • EQR (terminologisch klarer als die deutsche Implementierung DQR)
    • Niclas Shaper, Fachgutachten zur Kompetenzorientierung in Studium und Lehre (2012)
    • Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Man kann z.B. auch das Sprechen einer Programmiersprache als Sprachkompetenz der Niveaus A1..C3 ausdifferenzieren (Transfer erforderlich)
    • ...
    • (hier bitte Ihr Lieblings-Kompetenzschema eintragen)
    • ...
    • NICHT: Chomsky Sprachkompetenz: zu theoretisch, Transfer auf Praxis zu unbestimmt
    • NICHT: inhaltliche Sammlungen von Kompetenzen: Hier sind zwar viele (Beispiele von) Kompetenzen aufgeführt, der Begriff der Kompetenz selbst wird jedoch nur unklar definiert (extensionale Begriffscharakterisierung statt intensionaler Definition).
  • Lernziele K-orientiert durchdekliniert und operationalsiert sind

Nachtrag 2016-11-31

Wie schon eingangs gesagt: Gute Lehre ist ... wenn nicht das Lehren, sondern das Lernen im Blickpunkt steht.

Die Frage "Was ist gute Lehre" engt für Evaluatoren, die den "shift from teaching to learning" in ihren Einstellungen, insbesondere ihrem Rollenverständnis und ihrerm professionellen Habitus als (hier: Hochschul-) Lehrer (oder, spiegelbildlich, als Studierende ) noch nicht nachvollzogen haben den Blick auf die Lehrenden-Perspektive ein. Im Kurzfilm "teaching teaching, understanding understanding" entspricht das dem Level 2.

Was wir aber eigentlich brauchen ist eine Level 3 Perspektive und -Evaluation. Was wir wissen wollen: Unterstützt die Veranstaltung das eigene Lernen?

Beispiele für Fragen könnten sein:

  • Sind die Lernziele bekannt?
  • Ist konkret bekannt, wie der Dozent (z.B. in der Klausur) das Erreichen der Lernziele zu überprüfen gedenkt?
  • Kann man ggf. sogar selbst oder zusammen mit Peers feststellen, in welchem Maße man die Lernziele erreicht hat?
  • Gibt es - vom Dozenten, von Tutoren, von anderen Studierenden - Hinweise oder sogar gezielte Unterstützung, wie man sich auf die Klausur vorbereiten kann? (Geht das, will man das?)
  • Werden für den Stoff oder die Lernziele typische Lerntechniken vermittelt? (Gibt es die?)
  • Kann man selbst gut nachlernen - auch dann, wenn man selbst keine Zeit hat für den Vl-Besuch, oder wenn Vorlesungsstil des Dozenten und der eigene Lernstil nicht gut zusammenpassen?
  • Will die Veranstaltung selbstgesteuertes Lernen (SGL) ermöglichen? Schafft sie das?

Literatur

Kurzfilm "Teaching teaching, understanding understanding"; Version mit deutschen Untertiteln:

  • Playlist
  • (1/3) 5:38 Level 1: What students are; blame the student perspective | 6:44 Level 2: What teachers do; blame the teacher perspective | 7:55 Level 3: What students do
  • (2/3)
  • (3/3)

Bettina Jorzik (Hrsg.): Charta guter Lehre. Grundsätze und Leitlinien für eine bessere Lehrkultur. 2013

Fachgutachten zur Kompetenzorientierung in Studium und Lehre. HRK-Fachgutachten ausgearbeitet für die HRK von Niclas Schaper unter Mitwirkung von Oliver Reis und Johannes Wildt so wie Eva Horvath und Elena Bender